2016 jährt sich zum 100. Mal die Schlacht um Verdun, ein Sinnbild für die Sinnlosigkeit des Krieges. Im Jahr 1916 starben auf den Feldern vor Verdun, Ypern und an der Somme 300 000 Menschen. Deutsch wie Franzosen. In den 10 Monaten von Februar bis Dezember 1916, an deren Ende die Frontlinie kaum verändert war, entstand bei Verdun eine 250 qkm große Wüste, ein Leichenfeld. Noch heute bringt die landwirtschaftliche Arbeit der Bauern dort Überreste zu Tage: Knochen und Skelettteile, Blindgänger und Stacheldraht. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Soldaten auf diesem Schlachtfeld betrug 14 Tage. Man sagt, dass um die 6000 Männer pro Tag umgekommen sind, es war wohl die größte Anzahl Toter pro Quadratmeter - wenn man in solchen Kategorien überhaupt denken mag.
Der 1.Weltkrieg wird als 'Urkatastrophe der Menschheit' bezeichnet. Zum ersten Mal standen sich Armeen in gigantischen Größenordnungen gegenüber, waren industriell aufgerüstet wie nie zuvor mit Maschinengewehren, Flugzeugen, Giftgas und prägten den Ausdruck 'totaler Krieg'. 1916 war das Jahr der großen verlustreichen Schlachten, um die türkische Halbinsel Gallipoli, im Skagerrak nördlich von Dänemark und eben in Frankreich. Am Ende des Jahres waren Millionen Tote zu beklagen, die militärische Situation hatte sich nicht geändert.
Das kleine Dorf Fleury-devant-Douaumont wechselte in diesem Sommer 16 Mal von einer Hand in die andere. Das Dorf, es hatte mal eine Schule, Cafés und Bauernhöfe, war danach vom Erdboden verschwunden.
Vielleicht war der eine oder andere von Ihnen schon einmal in Douaumont. Vielleicht ist es Ihnen ergangen wie mir: das eindringliche Grauen, das ich dort empfunden habe, vergisst man nicht.
Heute gibt es Gedenkstätten, aber es gibt keine Zeitzeugen des 1. Weltkriegs mehr, die uns von den Schrecken berichten können.
Auch die Zeitzeugen des 2.Weltkriegs werden weniger. Vor wenigen Wochen mussten wir Abschied nehmen von einem ganz besonderen Mitbürger in unserer Gemeinde: Max Mannheimer. Er hat unbeschreibliches Leid erfahren, verlor im KZ seine Ehefrau, Eltern und alle Geschwister bis auf einen Bruder. Dennoch ist er nach dem Krieg wieder nach Deutschland gekommen und hat hier gelebt. Viele Jahre konnte er über seine schrecklichen Erfahrungen nicht sprechen. Dann aber hat er damit begonnen. Er hat sich die Zeugenschaft zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Unermüdlich war er bis zuletzt unterwegs, gerne in Schulen und im Kontakt mit Jugendlichen, um sein Leben zu erzählen. Zu berichten und Zeugnis abzulegen von der Shoa, der Vernichtung der Juden und dabei das Bewusstsein zu schärfen, dass unser Frieden und unsere demokratische Grundordnung nur dann funktionieren kann, wenn wir aktiv dafür eintreten.
Schüler des Ernst Mach Gymnasiums haben in diesem Jahr ein Theaterstück selbst entwickelt, geschrieben und zur Aufführung gebracht. Es heißt 'Spurensuche' und beschäftigt sich mit dem Leben unter der Naziherrschaft. Selten habe ich ein so beeindruckendes Stück gesehen. Auch diese Jugendlichen hatten mit Max Mannheimer gesprochen. Sie fragen in dem Stück „Was für ein Mensch willst Du sein?“ Wie fließend die Grenzen sein können zwischen Mitläufern, Tätern und Opfern machen diese jungen Menschen sichtbar. Parallelen zu heute sind erkennbar. Max Mannheimer war immer die Botschaft des 'Nie Wieder' wichtig. Er sorgte sich in letzter Zeit um aufkeimenden Antisemitismus in unserem Land und hatte auch zu den Flüchtlingen eine klare Meinung: Obergrenzen lehnte er ab.
Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gibt es auch in unserem Land. Die Menschen aus den heutigen Kriegs- und Elendsgebieten dieser Welt, aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea um nur einige zu nennen, erzählen uns von Hunger, Verzweiflung, Angst und Bombennächten. So wie auch meine Großeltern erzählt haben.
Der Volkstrauertag im Jahr 2016 trägt das Motto: Flucht und Vertreibung.
Wir trauern um die Opfer von Krieg und Gewalt – um alle Opfer! Manchmal verlieren wir aus dem Blickfeld, dass in einem Krieg nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten sterben. Insbesondere die Endphase des Zweiten Weltkriegs hat sehr viele zivile Opfer auf deutscher Seite gefordert. Viele Menschen starben auf der Flucht, nachdem sie gewaltsam vertrieben worden waren.
Die Generation unserer Großeltern, vielleicht auch noch Eltern, hat es erlebt, wie es ist, alles zu verlieren: Hab und Gut, Partner und Kinder, Angehörige und Freunde, Hoffnung und Perspektive. In Filmbeiträgen sehen wir die Trecks der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg: Menschen, die ihre Heimat aus Angst vor Gewalt und Elend verlassen mussten und oft nicht mehr besaßen als sie am Leibe trugen. Viele haben dabei den Wunsch nach Freiheit mit dem Tod bezahlen müssen. Auch ihrer Schicksale wollen wir am Volkstrauertag gedenken. Sie alle sind Kriegsopfer.
Die Menschen, die im III. Reich aus Deutschland fliehen mussten, hatten den „falschen“ Glauben, waren aktiv im Widerstand, wollten nicht Teil dieser Maschinerie sein. Nicht allen ist es gelungen, sich in Sicherheit zu bringen:
Carl Zuckmayer konnte ausreisen, weil er einen österreichischen Beamten überreden konnte.
Else Lasker-Schüler durfte nicht in die Schweiz. Der Grund lautete: Überfremdung.
Walter Benjamin wurde verwehrt, nach Spanien weiter zu reisen: er vergiftete sich.
Andere hielten das Leben im Exil nicht aus: Stefan Zweig beging Selbstmord ebenso wie Ernst Toller.
Für die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind wir das Exil. Haben Sie es schon einmal aus diesem Blickwinkel betrachtet?
Gerade wir wissen aus unserer Geschichte, dass Frieden und Demokratie hohe Güter sind, die nicht von allein entstehen. In Europa haben die Politiker nach dem Ende der Nazidiktatur den Weg der Völkerverständigung und Aussöhnung gewählt. Er war nicht immer leicht, erwies sich aber als wirkungsvoll. Ein geeintes Europa, so wie wir es heute haben, ist unsere Grundlage. Sie darf nicht aus kleinstaatlichem Denken und Populismus von innen heraus bedroht werden. Gerade das starke Deutschland spielt dabei eine verantwortungsvolle Rolle.
Der Volkstrauertag will uns anhalten, aus der Geschichte zu lernen. Das 'Nie wieder', das Max Mannheimer so vehement vorgetragen hat, ist als Auftrag zu verstehen, sensibel und wachsam zu sein für die Anfänge.
Und was müssen wir heute feststellen?
Rechte Parolen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus scheinen salonfähig zu werden. Es werden heute in aller Öffentlichkeit Sätze gesagt, die noch vor kurzem völlig unmöglich gewesen wären. Der neue amerikanische Präsident war in seinem Wahlkampf ein unrühmliches Beispiel dafür und wir alle dürfen gespannt sein, wie sich die USA unter Donald Trump entwickeln werden. Die Bundeskanzlerin hat ihm Zusammenarbeit auf der Basis unserer Werte angeboten. Dazu gehört nicht, dass Menschen angefeindet, ausgegrenzt und sogar körperlich angegriffen werden, weil sie eine andere Religion, Hautfarbe oder Herkunft haben. In vielen Ländern sehen wir den Ruck nach rechts. Es gibt leider auch wieder Deutsche, die sich lautstark vom Staat und von der Demokratie abwenden und nationalistischen Parolen hinterher laufen, die einfache Lösungen versprechen und sich dabei so häufig in Widersprüche verstricken.
Ich wünsche mir, dass Politiker, Parteien, wir alle klar abrücken und nicht der Versuchung verfallen, ebenfalls scheinbar einfache Lösungen für komplexe Themen anzubieten. Unsere Welt ist nicht einfach und leicht überschaubar. Wir stehen vor großen Herausforderungen, die differenzierte Betrachtungsweisen brauchen und klare Haltungen zum respektvollen Umgang miteinander.
Nützen wir den Volkstrauertag zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit unserer Vergangenheit. Nicht als Selbstzweck sondern als Grundlage für solidarisches Handeln, nicht irgendwo und irgendwann, sondern hier und heute.