Ansprache von Bürgermeisterin Gabriele Müller zum Volkstrauertag 2018

20. November 2018

Mit nüchternen Worten aus dem Großen Hauptquartier der deutschen Streitkräfte endete fast auf den Tag genau vor 100 Jahren, am 11. November 1918, der Erste Weltkrieg. „Infolge Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages wurden heute Vormittag an allen Fronten die Feindseligkeiten eingestellt.“, hieß es im letzten Heeresbericht.
Der 1. Weltkrieg zeigte in militärischer Hinsicht ein bis dahin nicht gekanntes, schreckliches Antlitz. Der Tod kam als Ingenieur – mit Maschinengewehren, Flammenwerfern, Tanks, Ferngeschützen monströser Kaliber, U-Booten, Zeppelinen, Flugzeugen und Giftgas. Er hielt blutige Ernte in den Material- und Abnutzungsschlachten, im mehrtägigen Trommelfeuer, in einem jahrelangen mörderischen Stellungskrieg. Die Soldaten fielen zu Hunderttausenden - nicht nur in Flandern, vor Verdun, an Marne und Somme - auch im Osten Europas, auf dem Balkan, in den Alpen, im Vorderen Orient, selbst in Afrika und Asien wütete dieser Krieg. 70 Millionen Mann wurden in 40 Ländern und in den Kolonien mobilisiert, 9 Millionen Soldaten fielen, etwa 20 Millionen wurden verwundet.

Doch gelitten und gestorben wurde nicht nur an der Front. Weltweit stellten acht bis neun Millionen Kriegsgefangene eine bis dahin ungekannte Größenordnung dar. Auch unter der Zivilbevölkerung forderten die Jahre 14 bis 18 unermessliche Opfer durch Besatzung, Hungerblockade und völkermörderische Vertreibungen: Ihre Zahl wird auf 7 Millionen Menschen geschätzt. Jeder siebte Mann aus Bayern, der Kriegsdienst leistete, ist gefallen oder vermisst, 200.000 Männer insgesamt. Eine ganze Generation blieb im Feld oder kehrte verwundet, traumatisiert, als Invalide in die Heimat zwischen Spessart und Karwendel zurück. „Eine Generation, die noch mit Pferdebahnen zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“ (Walter Benjamin: Der Erzähler, 1936) Unzählige in den Archiven schlummernde Briefe legen Zeugnis ab, auf welch berührende Weise manche Menschen mit ihrem Los umgingen. Der Parsberger Frontsoldat Peter Utz, so war es in der SZ zu lesen, schrieb im Ersten Weltkrieg täglich seiner Frau und seinen Kindern. Seine Texte bezeugen die Absurdität dieses Kriegs, aber auch die Sorgen einer Familie, die sich unbeirrt bemühte, ihren Kindern inmitten der Katastrophe Liebe und Optimismus zu vermitteln. Aus ihnen hoffnungsfrohe Menschen zu machen und sie doch mit der Realität des Krieges konfrontieren zu müssen, das war der Spagat, den Utz zu meistern hatte. "Krieg ist ein furchtbares Wort", schrieb er einmal, "wer ihn nicht erlebt, wer nicht mitten drinnen gestanden, kann es nicht erfassen." Das Ende des 1. Weltkriegs markiert einen historischen Wendepunkt: Mehrere Monarchien fanden in Folge dieses Krieges ihr Ende, beginnend mit der Russischen Revolution 1917 bis hin zur Auflösung der Habsburger Doppelmonarchie Österreich Ungarn, der Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. und dem Ende des Osmanischen Reiches.
Neue Staaten entstanden: Estland, Lettland und Litauen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. In der Levante und in Nahost teilten Frankreich und Großbritannien Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches unter sich auf. Zugleich endete die vergleichsweise kurze, aber düstere Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches. Zahlreiche spätere, zum Teil bis heute virulente Konfliktherde – gerade im Nahen Osten oder auf dem Balkan – sind ohne den Blick auf die Zusammenhänge, die Ergebnisse und die in der Folge des Ersten Weltkrieges vorgenommenen Grenzziehungen nicht zu verstehen. Die USA manifestierten mit ihrer Kriegsteilnahme ihre Rolle als Weltmacht.
Aus den Schlachtfeldern erhob sich eine neue Weltordnung. Das Jahr 1918 wird zum Schicksalsjahr in der europäischen Geschichte.

Der Ruf nach Mitbestimmung, nach Teilhabe und Eigenverantwortung erstarkte in der Bevölkerung. Ausgehend vom Kieler Matrosenaufstand bildeten sich in kürzester Zeitpraktisch in allen größeren deutschen Städten revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte, welche - zum Teil unter der Losung "Wir sind das Volk" - die städtische Verwaltung übernahmen und politische Forderungen stellten: Frieden, Abdankung des Kaisers und die Umwandlung des Deutschen Reichs in eine demokratische Republik. Der erste deutsche Thron fiel in Bayern: Ludwig III. dankte ab und in München proklamierte die Rätebewegung am 7. November 1918 die Bayerische Republik, die Geburtsstunde des Freistaats Bayern.
Die Novemberrevolution ist eines der wichtigsten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte. In Europa hat es kaum je eine schnellere, gewaltärmere und größere Umwälzung des politischen Systems gegeben: Kein Krieg mehr, kein Kaiser, keine Adelsherrschaft, dafür eine Arbeitslosenversicherung und das Wahlrecht für alle Frauen und Männer ab 20 Jahren aufwärts. Im historischen Gedächtnis der Deutschen ist sie aber kaum verankert. Das Scheitern der aus ihr hervorgegangenen Weimarer Republik und die darauffolgende Zeit des Nationalsozialismus haben den Blick auf die Ereignisse an der Jahreswende 1918/19 lange Zeit verstellt. Denn in der Folge der Novemberrevolution ist es nicht gelungen, eine nachhaltige, stabile demokratische Regierung aufzubauen. Die Vorzeichen des nahenden Nationalsozialismus wurden nicht erkannt.

Im Jahr 2018 stehen wir vor einem Rechtsruck in vielen Staaten: USA, Ungarn, Polen, Österreich, Italien. Internationale Abkommen werden in Frage gestellt, die Interessen der eigenen Nation bedingungslos vorangestellt. Dominanz statt Partnerschaft. Spaltung statt Interessensausgleich. Wer in der Mitte spaltet, macht die Ränder stark. Das können auch wir bei uns beobachten. Deshalb müssen wir wachsam bleiben gegenüber den Anfängen einer nationalistischen und zuweilen menschenverachtenden Rhetorik, einer wachsenden Bereitschaft Menschen einzuteilen in gute und andere, wobei die anderen aufgrund ihrer Religion, Kleidung, Herkunft oder Hautfarbe definiert werden. In allen deutschen Länderparlamenten haben wir es mittlerweile mit einer Partei zu tun, die sich anmaßt, derlei Unterscheidungen wieder treffen zu können. Sie wurden in unserem demokratischen System gewählt. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sie gewählt.
Als aufgeklärte, demokratische Gesellschaft dürfen wir es nicht zulassen, dass diese Wortwahl, dieses Gedankengut bei uns noch einmal Fuß fasst. Ich habe Hoffnung, dass uns dies gelingt. Wir konnten den Sommer und Herbst über miterleben, dass Tausende Menschen sich gegen die Spaltung unserer Gesellschaft aussprechen. In München bei #ausgehetzt und „Wehret den Anfängen“ oder in Berlin, wo 240.000 Menschen auf die Straße gingen, um für ein friedliches und offenes Miteinander zu demonstrieren.

Am vergangenen Wochenende setzten Staats- und Regierungschefs in Frankreich und London ein großes Zeichen. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier besuchte die offizielle Gedenkfeier in London. Für die Briten ein große Geste, ein deutsches Staatsoberhaupt einzuladen. Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trafen sich erstmals gemeinsam in Compiègne, dem Ort des Waffenstillstands 1918. Aus dem „Ort der Revanche“ wird ein „Ort der endgültigen Versöhnung“, sagten beide Politiker, die damit ein ebenso starkes Bild sendeten wie 1984 Kohl und Mitterand auf dem Soldatenfriedhof in Verdun.
Ein leuchtendes Bild des Friedens schickt auch München derzeit um die Welt. Der Aktionskünstler Walter Kuhn verwandelt den Königsplatz in ein Meer von Mohnblumen. 3.200 Blüten von Paten gestiftet, Bewerber gab es noch viel mehr. Die Briten tragen an ihrem Gedenktag rote Mohnblumenanstecker am Revers. Sie sind ein Zeichen für die Solidarität mit ihren gefallenen Soldaten.
Joachim Gauck, unserer früherer Bundespräsident bezog in sein „Totengedenken zum Volkstrauertag“ alle Opfer von Gewalt und Krieg - Kinder, Frauen und Männer aller Völker ein. Ein Schritt, den wir als Gemeinde schon in den 1980er Jahren vollzogen haben, als wir die Inschrift hier am Mahnmal erweitern ließen. Hier steht: „Unseren Gefallenen, den Opfern von Verfolgung, Euthanasie, Krieg, Gefangenschaft und Vertreibung.“ Am Volkstrauertag erinnern wir aller, die Leid trugen und tragen, denn noch immer gibt es weltweit 222 gewaltsame Konflikte.

Wir in Mitteleuropa dürfen seit 70 Jahren in Frieden leben. Ein Wert, den wir hochhalten, bewahren und schützen müssen. Die Europawahl nächstes Jahr muss zeigen, dass wir nicht noch weiter auseinanderdriften, sondern für ein starkes, friedliches Europa zusammenstehen.
Mit dieser Ausrichtung ist der Volkstrauertag nicht überholt, sondern behält seine Bedeutung für unsere Gesellschaft. Ein Tag der Erinnerung an unsere Verantwortung zum Brückenbauen zwischen den Menschen.

Volkstrauertag 2018

Teilen