Rede von Bürgermeisterin Müller anlässlich des Volkstauertages

17. November 2014

Volkstrauertag
© Petra Schönberger

Liebe Haarerinnen und Haarer.

Auch in diesem Jahr haben wir uns wieder hier zusammengefunden, um den Volkstrauertag zu begehen.

Wissen Sie eigentlich, wo dieser Gedenktag seine Wurzeln hat?
Die erste Feierstunde fand 1922 im Deutschen Reichstag in Berlin statt. Der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe hielt eine im In- und Ausland vielbeachtete Rede, in der er einer feindseligen Umwelt den Gedanken an Versöhnung und Verständigung gegenüberstellte. Nicht "befohlene" Trauer war das Motiv, sondern das Setzen eines nicht übersehbaren Zeichens der Solidarität derjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit den Hinterbliebenen der Gefallenen. Als Termin wurde der Sonntag „Reminiscere“, also der 5. Sonntag vor Ostern benannt.

1934 bestimmten die nationalsozialistischen Machthaber durch ein Gesetz den Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und benannten ihn "Heldengedenktag". Die Träger waren bis 1945 die Wehrmacht und die NSDAP. Die Richtlinien über Inhalt und Ausführung erließ der Reichspropagandaminister.
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde der Volkstrauertag erneut eingeführt und 1950 erstmals mit einer Feierstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages begangen. Als Termin wurde der vorletzte Sonntag des evangelischen Kirchenjahres benannt, bei den Katholiken ist es der 33. Sonntag im Jahreskreis, also Mitte November. Mit zunehmendem Abstand vom Krieg ist es nicht nur ein Tag der Trauer, sondern auch ein Tag des Gedenkens, der Mahnung zu Verständigung und Versöhnung geworden.
Wir gedenken der Opfer von Gewalt und Krieg, wir gedenken der Männer und Frauen und Kinder aller Völker denen Schlimmes widerfahren ist, den Soldaten die in Krieg oder Gefangenschaft starben, wir gedenken der Menschen, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse oder Religion, weil sie eine andere politische Überzeugung hatten oder weil sie behindert waren.
Als ich diese Zeilen geschrieben habe, wurde mir immer klarer, dass die Liste der Gründe, warum Menschen sich so etwas Verheerendes wie Krieg gegenseitig antun, unendlich lang ist.
Lang und erschreckend willkürlich.
Die Frage drängt sich förmlich auf: Warum nur, tun wir Menschen so etwas?

Wir versuchen, in der Geschichte Antworten zu finden und da steht in diesem Jahr der Ausbruch des 1. Weltkrieges im Fokus. Der 1. Weltkrieg, zurecht wird er auch die ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ genannt. Mit ihm fiel die zivilisierte Welt in Abgründe. Der Erste Weltkrieg wurde zum Geburtshelfer der beiden großen, antagonistischen totalitären Bewegungen und Systeme des 20. Jahrhunderts – des Nationalsozialismus wie auch des Kommunismus – die lange Jahrzehnte nicht nur das Leben in Deutschland, sondern in Europa und weit darüber hinaus bestimmten. Das öffentliche Interesse war in diesem Jahr groß, es gab in den Zeitungen viel zu lesen, im Fernsehen zu sehen und es wurden Bücher herausgebracht, die zum Teil über Wochen ausverkauft waren.
Vielleicht sind wir auch deshalb so sehr auf der Suche nach Antworten, weil Gewalt, Terror und Krieg um uns herum in erschreckendem Maß zunehmen. Fassungslos stehen wir vor der Gewalt im Nahen Osten, in Syrien, vor der ISIS und in der Ukraine. Dachten wir nicht alle an eine immer engere Kooperation mit Russland? An ein Bündnis das Europa auf ewig den Frieden sichert?
Waren wir nicht alle begeistert von der friedlichen Revolution vor 25 Jahren? Zu ersten mal in unserer Geschichte ist der Zusammenbruch eines derart etablierten Systems wie es der Kommunismus war, friedlich geschehen, ohne jede kriegerische Handlung. Der Weg war frei zur Einheit Deutschlands und dem Zusammenwachsen Europas in der EU.
Heute müssen wir uns fragen, ob wir wirklich alle Chancen genutzt haben, die die Wiedervereinigung uns gegeben hat. Gorbatschow spricht heute davon, dass es einen 'Zusammenbruch des Vertrauens' in den letzten Monaten gegeben habe. Viele von uns empfinden es ebenso. Die Sorge gilt einem neuen Kalten Krieg, den wir nicht wollen. Wir müssen erkennen, dass eine deutsch-russische Partnerschaft die Basis ist für ein friedliches Europa.

Die Beschäftigung mit den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den daraus mit der Gestaltung eines integrierten Europa gezogenen Lehren führt uns deutlich vor Augen, dass die Europäische Union mehr ist als ein Finanz- und Wirtschaftsprojekt. Sie ist ein großes Friedens- und Versöhnungswerk, das zu erhalten und weiterzuentwickeln sich nicht nur lohnt, sondern unsere künftige Existenzbedingung darstellt.
Vor diesem Hintergrund sehe ich mit Sorge die wieder aufkeimende Kleinstaaterei – Volksabstimmungen zur Abspaltung sind nicht der Weg zum Erhalt von Frieden.
Aber immer noch sind wir nicht angekommen bei der Antwort nach einem möglichen ‚warum?‘ Warum ziehen Menschen in den Krieg und fügen sich unsägliches Leid zu. Die Erforschung möglicher Ursachen für Krieg ist eine eigene Wissenschaft. Einfache Antworten gibt es nicht. Aber schon im alten Griechenland werden Neid, Habgier und Hass genannt, nicht erst heute muss religiöse Verblendung dazugezählt werden.

Wie werden diese Dinge heute transportiert? Da gibt es eine klare Antwort: Durch unsere Vielfalt an Medien, für jede Altersgruppe gibt es etwas und alle arbeiten mit Bildern.
Isis, Syrer, Kurden, Russen, Ukrainer, Hamas und Israelis, Amerikaner und al Kaida schießen, morden, zerbomben und immer ist irgendwo eine Kamera dabei und macht Bilder.
Wir sehen diese Bilder dann abends in unseren Wohnzimmern. Nur: Was sehen wir da eigentlich? Gut: Es gibt immer Texte dazu, die uns etwas erklären, aber wie sicher können wir uns sein? Bilder emotionalisieren sehr stark.
Sie erinnern sich vielleicht an den ersten Irakkrieg. Man konnte in gestochen scharfen Großaufnahmen verfolgen, wie eine Rakete in eine Munitionsfabrik flog und dort genau in der Mitte des Gebäudes einschlug.
Später stellte sich heraus, dass diese Aufnahmen gestellt waren.
Sollten wir nicht kritischer sein und hinterfragen, wer eigentlich welche Absicht verfolgt, wenn uns diese und jene Aufnahme gezeigt wird, die beweisen soll wer in dem Konflikt der Gute und wer der Böse ist?

Was wir völlig ohne Medien, ganz unverstellt, selbst erleben können ist die Not der Menschen die aus den Kriegsgebieten und auch aus anderen Gebieten dieser Erde zu uns kommen. Menschen die bei uns Schutz und Zuflucht suchen.
Auf der ganzen Welt sind mehr als 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Zum Vergleich: In Deutschland leben rund 80 Millionen Menschen. Ungefähr die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder.
In unserer Gemeinde leben derzeit circa 20 Personen. Sie haben das Glück auf offene und hilfsbereite Menschen zu treffen, die sich zu einem Helferkreis zusammengefunden haben. Im Rathaus darf ich in den letzten Wochen erleben, wie Mitbürger sich melden und Unterstützung anbieten. Das Leid der Flüchtlinge ruft eine Welle der Hilfsbereitschaft hervor, deutlich mehr, als es Mitbürger mit Vorbehalten gibt.
Es ist auch ein Auftrag des Volkstrauertages, eine Pflicht aus dem Gedenken, heute den Verfolgten die Hand zu reichen. Und ich bin stolz, in einer Gemeinde zu leben, in der diese Flüchtlinge nicht als Bedrohung, sondern als bedrohte Menschen gesehen werden, die bei uns Schutz und Hilfe finden sollen.
Damit sind wir wieder zurück bei den Wurzeln des Volkstrauertages nach dem ersten Weltkrieg: Nicht befohlene Trauer war das Ziel, sondern es ging darum ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Solidarität zwischen denen die das Glück hatten, von großem Leid verschont geblieben zu sein und denen, die dieses Glück nicht hatten. Darum geht es auch heute.
Vielen Dank

Ihre
Gabriele Müller

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