Volkstrauertagsrede 2013 von Bürgermeister Helmut Dworzak

19. November 2013

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

wir haben uns heute hier versammelt, um all den Kindern, Frauen und Männern zu gedenken, die Opfer von Gewalt und Krieg wurden. Übersteigerter Nationalismus, Rassismus und Diktatur führten zu Verfolgung und Ermordung, führten zu Kriegen, Vertreibung und Gefangenschaft. Bis heute hat Fanatismus weltweit kein Ende gefunden und fordert täglich Opfer. Wir Deutschen dürfen nun in der längsten Friedensperiode unserer Geschichte leben. Welch ein Glück.

Die Medien erinnern uns bei runden Jahrestagen immer wieder an die früheren Katastrophen und dies wird auch immer wichtiger, denn lebende Zeugen gibt es immer weniger. Wenn sich nächstes Jahr der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt, werden wir eine Vielfalt von Dokumentationen erleben, die uns erklären, warum, was passiert ist. Die menschliche Note des Augenzeugen gibt es aber nicht mehr und bezüglich des Zweiten Weltkrieges wird es auch bald so sein.

Natürlich hat auch der Volkstrauertag mit dem Blick auf die Vergangenheit zu tun, aber im Gegensatz zu wissenschaftlichen oder journalistischen Sichtweisen ist das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft eine zutiefst emotionale Angelegenheit. Der Volkstrauertag möchte unser Mitgefühl lebendig halten. Mitgefühl entsteht, wenn wir uns das Leid der Menschen vor Augen führen. Es ist eine zutiefst menschliche Errungenschaft, die Gefühle anderer, ihre Trauer und ihren Schmerz anzuerkennen, ja – sich hinein zu denken und zu fühlen. Und das kann nicht Halt machen an nationalen Grenzen, sondern führt zu der Einsicht, dass die Menschen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg durch gemeinsame Werte, Rechte und Pflichten, aber auch durch Sehnsüchte und Ängste miteinander verbunden sind.

Der Volkstrauertag wurde aus dem Wissen gegründet, dass es am letzten Kriegstag keinen Sieger und keinen Verlierer gibt, sondern nur Menschen, die mit unsäglichen Leiden bezahlt haben. Das Gefühl dafür darf uns nicht verloren gehen. Aus bitterster Erfahrung Millionen Deutscher hieß es über viele Jahrzehnte in unserem Land: Nie wieder Krieg. Die Enttabuisierung dieses Grundsatzes geschah 1995 in Srebrenica. Der Völkermord vor unserer Haustüre führte zum Umdenken. Dieses „Nie wieder“ – diese Verpflichtung aus unserer Geschichte wandelte sich zu „nie wieder Auschwitz“ und wurde zu einem neuen Leitmotiv deutscher Außenpolitik. Mit den Kriegen in Bosnien und Kosovo ist eine Stabilisierung für die Menschen dort erreicht worden. In Afghanistan gilt dies sicher nur begrenzt. Wir haben aber über die Jahre versäumt für militärische Aktionen als Mittel der Außenpolitik Leitlinien zu diskutieren und zu erarbeiten. Somalia, Libyen, Syrien – eine klare Linie ist nicht erkennbar. Und der unselige Krieg im Irak hat dieses Nichtdenken erleichtert.

So sieht die Welt heute – achtzehn Jahre nach Srebrenica – den Massakern in Syrien tatenlos zu. Giftgas ist ein Massaker. Wir fordern Einhalt – aber ohne Bereitschaft zum Engagement. Und was ist mit der humanitären Hilfe, die wir der Weltgemeinschaft immer als Ersatz für militärisches Engagement angeboten haben?
Über 1 Million syrischer Flüchtlinge sind heute allein vom kleinen Jordanien aufgenommen worden.

Aus den schrecklichen Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen im Dritten Reich und danach entstand in Deutschland ein Asylrecht, das einmal von Mitgefühl getragen war.

Die meisten wussten, was mit Regimegegnern geschah, denen die Flucht nicht geglückt war. Alle wussten spätestens 1945 vom Schicksal des jüdischen Mitbürgers, der keine Aufnahme in anderen Ländern gefunden hatte. Und der 1000-fache Tod der Flüchtlinge in der eiskalten Ostsee hatte sich bei vielen Deutschen fest ins Bewusstsein eingebrannt.

Die Bürgermeisterkollegin Giusi Nicolini von der Insel Lampedusa spricht heute davon, dass die Menschen vor ihrer Insel sterben wie in einem Krieg. Boote drehen ab und lassen in Seenot geratene Flüchtlinge ertrinken. Wer hilft, macht sich strafbar. So das gültige Gesetz in Italien – eingebracht von der Lega Nord, die ja in manchen Dingen nicht allzu weit von faschistischem Gedankengut entfernt ist. Und so wie die Nazis Zerrbilder von Feinden schufen, um den Soldaten das Töten zu erleichtern, schaffen wir heute auch bei uns Zerrbilder von Asylbewerbern und Flüchtlingen, um uns der Verantwortung zu entziehen. „Wohlstandstouristen, Schmarotzer, das Boot ist voll, ganz Afrika steht vor der Tür...“ Und einer der reichsten Landkreise Europas – der Landkreis München – weiß nicht, wo er Flüchtlinge unterbringen soll, weil die Bürger diese Zerrbilder fest in ihren Köpfen haben. Müssen deshalb die Menschen vor den Küsten Europas zur Abschreckung ertrinken?

Der Volkstrauertag möchte nicht nur unser Mitgefühl aufrecht erhalten, er hat auch immer das Leid des Einzelnen in den Gesamtzusammenhang gestellt – Ursachen offen gelegt. Wir akzeptieren die Vernichtung der afrikanischen Landwirtschaft durch unsere Agrarsubventionen, wir akzeptieren den Raubbau an den Fischbeständen vor ihren Küsten, wir sind entsetzt über die Armut und die Bürgerkriege, die häufig mit unseren gelieferten Waffen geführt werden. Wir haben aber keine Flüchtlingskonzeption, die klarlegt, wer kommen darf. Wir haben keine Ursachenbekämpfung in den Ursprungsländern, wir haben keine Aufnahmequoten zur Soforthilfe für Kriegsopfer. Wir bauen an der Festung Europa.

Kaum fiel die Mauer zwischen Ost und West, da versuchen wir mit viel Geld eine neue zu errichten. Von Mitgefühl ist in Festtagsreden leicht zu sprechen, in unseren Köpfen schaut es 68 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aber anders aus. Das millionenfache Elend unserer Großeltern und Eltern prägt nicht mehr unser Denken. Und die ungeheure Leistung Nachkriegdeutschlands, die erfolgreiche Eingliederung von Millionen Flüchtlingen gibt uns nicht einmal den Mut zur Aufnahme von ein paar Tausend Asylbewerbern.

In der alten Schutzburg und heutigem Mahnmal vor den Mauern von Rothenburg stehen zwei Mahnsprüche. Über den Namen der Gefallenen heißt es: „Unser Opfer werde Saat für Frieden mit allen Menschen und Völkern“. Daneben ist zu lesen: „Heimat verloren – Heimat gefunden – In dieser Gemeinde endete die Flucht von Siebenbürger Sachsen und es begann hier ihre Eingliederung in eine neue Heimat. Dank an alle, die ihnen dabei geholfen haben – zum Gedenken an überwundene Not.“

Es gibt überall in unserem Land Mahnmale zur Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt. Das beste Denkmal aber, das wir schaffen können, ist der Aufbau einer Gesellschaft, die über alle Grenzen hinweg von Toleranz, gegenseitiger Achtung und Humanität geprägt ist. Lassen wir unser Mitgefühl nicht verkümmern.

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